Die Mülheimer Erklärung (1909)
Nachdem uns von den am 15. Sept. in Berlin versammelten Brüdern eine Erklärung gegen die sogenannte Pfingstbewegung zugesandt worden ist, fühlen wir uns veranlaßt, unsern Standpunkt zu derselben klarzulegen.
Vor allen Dingen ist es uns Bedürfnis zu betonen, daß wir uns mit den teuren Brüdern völlig eins wissen in der Liebe zu Jesus, unserem gemeinsamen Haupt. Wir wollen fleißig sein zu halten die Einigkeit im Geist durch das Band des Friedens. Daher liegt uns der Gedanke fern, irgendwie auf eine Spaltung oder Trennung der Gemeinde Gottes hinzuarbeiten. Im Gegenteil ist es uns ein tiefes Bedürfnis, mit dem ganzen Volke Gottes in brüderlicher Verbindung zu bleiben.
Zu der Erklärung selbst bemerken wir folgendes:
1.
Wir danken dem Herrn für die jetzige Geistesbewegung. Wir sehen sie an als den Anfang der göttlichen Antwort auf die jahrelangen Glaubensgebete um eine weltumfassende Erweckung. Wir erkennen also in ihr eine Gabe von oben und nicht von unten.
Was ist der Grundzug und die treibende Kraft in dieser Bewegung? Es ist die Liebe zu Jesus und der Wunsch, daß Er voll und ganz zu Seinem Rechte in, an und durch uns komme. Wir wollen nichts anderes, als daß Er verherrlicht werde. Der Zweck dieser Bewegung ist, daß das Blut Jesu durch völlige Erlösung Seine Kraft beweise und daß der Heilige Geist Raum und Herrschaft gewinne, um uns zuzubereiten für das Kommen des Herrn.
Im einzelnen möchten wir hervorheben, daß selbstverständlich auch in dieser Bewegung sich nicht nur Göttliches, sondern auch Seelisches, beziehungsweise Menschliches und unter Umständen auch Dämonisches geltend macht. Es ist das eine Erscheinung, die wir bei jeder Erweckung finden.
Was die in jener Erklärung erwähnten „körperlichen Machtwirkungen“ anbetrifft, sind wir weit davon entfernt, sie alle ohne Unterschied als göttliche Wirkungen zu bezeichnen; deshalb brauchen sie aber nicht dämonischen Ursprungs zu sein. Es kommt eben sehr viel darauf an, wie sich das Gefäß den Einwirkungen des Heiligen Geistes gegenüber verhält. Der Mensch ist keine Maschine. Er kann je nach seiner inneren Stellung dem Heiligen Geist widerstreben, oder auch in fleischlicher Weise nachzuhelfen suchen und so entsteht ein böses Gemisch von Göttlichem und Menschlichem, das vielfach Anstoß gegeben hat, und mit Recht.
Anderseits wollen wir nicht vergessen, daß auch die Heilige Schrift auffallende körperliche Erscheinungen kennt. Als die 120 in Jerusalem mit dem Heiligen Geist erfüllt wurden, hat man zweifelsohne an ihnen auffallende Erscheinungen beobachten können, vergleiche Vers 33 „was ihr sehet und höret“. Das bloße Reden in fremden Sprachen konnte nicht den Eindruck der Trunkenheit hervorrufen. Ebenso sagt auch Paulus 1. Kor. 14,23, daß das Zungenreden auf Uneingeweihte einen abstoßenden Eindruck machen könne. In diesem allen sieht die Heilige Schrift keineswegs das Wirken eines fremden Geistes.
Besondere Beanstandung haben die hin und her festgestellten sogen. falschen Weissagungen erfahren. Das ist in der Tat ein Punkt, auf dem wir bei unserer allgemeinen Unerfahrenheit auf diesem Gebiet noch viel zu lernen haben werden. Aber die Heilige Schrift wird uns auch hierbei nicht ohne Rat und Aufklärung lassen.
In dieser Beziehung sind die Erlebnisse des Apostel Paulus auf seiner letzten Reise nach Jerusalem sehr lehrreich, vergl. Ap. 20,21 bis 21,14. Er fühlt sich im Geist gebunden nach Jerusalem hinaufzuziehen, obwohl der Heilige Geist ihm in allen Städten bezeugt, daß Bande und Trübsale seiner daselbst warten. In Tyrus aber sagen ihm einige Jünger durch den Geist, er solle nicht nach Jerusalem ziehen (Kap.21.4), und in Cäsarea weissagt ihm Agabus, daß er in Jerusalem gebunden und in der Heiden Hände würde überantwortet werden, (V.10-11). Was hätte Paulus bei diesen sich scheinbar widersprechenden Weissagungen tun müssen, wenn er nicht mit der Möglichkeit gerechnet hätte, daß auch Propheten irren können? Er hätte die einen oder den andern als falsche Propheten bezeichnen und demgemäß behandeln müssen. Wir lesen aber nicht, daß Paulus daran denkt, daß irgend ein Lügengeist von ihnen Besitz genommen haben könne, sondern er handelt nach der Anweisung, die er uns Röm. 12,7; 1. Thess. 5,20-21 und 1. Kor.14,29 gibt: Er verachtet nicht, was die Brüder ihm nach bester Meinung sagen, aber er prüft ihre Weissagungen, um zu erkennen, welches für ihn der Wille Gottes sei.
Ein charakteristisches Beispiel dafür, daß Propheten irren, ja schlimme Dinge tun können, haben wir in 1. Könige 13, wo der ungenannte alte Prophet zuerst log (V.18) und dann doch eine echte, göttliche Weissagung erhielt (V.20 ff.).
Wir erinnern weiter an Nathan, 2. Sam 7. Zuerst als David ihm seinen Plan, dem Herrn ein Haus zu bauen, enthüllte, stimmte er ihm durchaus zu, darnach aber empfing er in der Nacht ein Wort vom Herrn, das gerade das Gegenteil aussprach.
Aus solchen Vorgängen sehen wir, daß wir sorgfältig unterscheiden müssen zwischen dem, was Gott je und je durch Seinen Geist einem Propheten gibt, und dem, was dieser selbst aus seinen eigenen Gedanken hervorbringen und event. hinzutun kann. Hierauf weist uns auch, was Paulus 1. Kor.14,32 sagt. Wer ist nach diesem Wort der Weissagende? Offenbar der Geist des Propheten. Gott läßt also nicht in der Weise weissagen, daß er einen Propheten zur bloßen Maschine macht, sondern Er benutzt den Geist des Propheten. Was unter diesem Geist des Propheten zu verstehen ist, geht aus V. 14 hervor. Dort unterscheidet Paulus, nach Luthers Übersetzung, den Sinn und den Geist eines Menschen. Unter dem Sinn versteht er das bewußte, und unter Geist das unbewußte Geistesleben des Menschen. In dieses unbewußte Geistesleben (modern auch „Unterbewußtsein“ genannt), legt Gott die Gabe des Zungenredens oder der Weissagung nieder. Diese Gaben sind göttliche, anvertraute Schätze. Bei richtigem Gebrauch sollten sie niemals anders angewandt werden, als wenn der Heilige Geist von oben dazu Leitung und Auftrag gibt.
Nun aber besteht zwischen unserem bewußten und unbewußten Geistesleben durch unsere Persönlichkeit ein natürlicher Zusammenhang. Was wir im bewußten Geistesleben denken oder wollen, schlägt sich, ohne daß wir es merken, in dem unbewußten Geistesleben nieder. Daher kommt es, daß der Prophet selbst auf seinen „Geist“ einen Einfluß ausüben kann. Das eben meint Paulus, wenn er sagt, daß die Geister der Propheten den Propheten untertan sind.
Halten wir diese Richtlinie fest, so ergibt sich daraus folgendes: Wenn der Heilige Geist von oben den Propheten voll und ganz hinnehmen und beherrschen kann, so wird ihm nun eine göttliche Botschaft anvertraut, die niedergelegt wird in seinem unbewußten Geistesleben, die nun in prophetischer Rede von ihm ausgesprochen wird. Es kommt daher alles darauf an, ob ein mit Prophetengabe ausgerüsteter Mensch allein vom Geiste Gottes abhängig ist oder nicht. Hieraus erklärt sich der vorhin aus Ap. 21,4 angeführte Vorgang, als jene Brüder dem Paulus sagten durch den Geist, er solle nicht nach Jerusalem hinaufgehen. Offenbar hatten sie etwas Göttlich-richtiges erkannt, nämlich, daß ihm Trübsal und Bande bevorstanden; aber weil sie sich in den Gedanken nicht finden konnten, daß Paulus gefangen genommen werden sollte, gaben sie ihre Botschaft nicht rein göttlich wieder, sondern der in ihrem bewußten Geistesleben gehegte Wunsch, den Apostel zu behalten, wurde der Vater des Gedankens, Paulus solle nicht nach Jerusalem ziehen. Auf diese Weise erklären sich manche betrübende Vorkommnisse, die sich auf dem Gebiete der unrichtigen Weissagungen je und je ereignet haben. Wir sind fern davon, jede Weissagung, die von einem Geistgetauften ausgesprochen wird, von vornherein als göttlich anzuerkennen, sondern wir prüfen sie vielmehr nach den eben besprochenen biblischen Richtlinien. Daraus geht auch hervor, daß wir den Weissagungen nicht einen solchen Wert beilegen können, daß wir etwa eine ganze Reichsgottesarbeit, wie man anzunehmen scheint, in die Abhängigkeit von solchen Botschaften stellen würden. Im Gegenteil würden wir, wo wir solches vorfänden, dies als eine Verirrung bezeichnen. Außerdem ist zu bedenken, daß der Inhalt der Weissagungen in der Regel Erbauung, Tröstung und Ermahnung für die Gemeinde enthält (1.Kor. 14,3).
Fassen wir dies Ergebnis zusammen, so sehen wir, dass die Gefahr menschlicher Einwirkung in erster Linie und dämonischer Beeinflussung erst in zweiter Linie kommen kann. Aufgrund der Schrift haben wir also nicht ohne weiteres das Recht, dort einen Dämon zu vermuten, wo eine Weissagung abgegeben wurde, die sich irgendwie als irrig erweist. Daß dann und wann Besessenheit sich gezeigt haben mag, wollen wir durchaus nicht in Abrede stellen. Wo dies aber vorgekommen ist, lag wohl jedesmal ein besonderer ursächlicher Zusammenhang vor, und, wo dieser gehoben wurde, ist noch stets Befreiung eingetreten.
Jedenfalls dürfen wir aus unserer Erfahrung heraus mit demütigem Dank gegen Gott bezeugen, daß wir uns in dieser Pfingstbewegung auf der Linie befinden, welche Mark.16,17ff. gezeichnet ist: „Die Zeichen aber, die da folgen werden denen, die da glauben, sind die: In meinem Namen werden sie Teufel austreiben, mit neuen Zungen reden, Schlangen vertreiben, und so sie etwas tötliches trinken, wird’s ihnen nicht schaden; auf die Kranken werden sie die Hände legen, so wird’s besser mit ihnen werden.“
2.
Hinsichtlich der uns zur Last gelegten Irrlehre, das „reine Herz“ betreffend, weisen wir darauf hin, daß in der Erklärung die Lehre von Pastor Paul über jenen Punkt unrichtig dargestellt ist. Es wird darin gesagt, dass der Gläubige wohl „in Christo ein fleckenlos gereinigtes Herz empfange“, daß es aber Pastor Pauls Irrlehre sei, „daß das Herz in sich einen Zustand der Sündlosigkeit erreichen könne.“ In Wirklichkeit hat aber Pastor Paul, wie jeder, der ihn näher kennt, wohl weiß, in Wort und Schrift immer wieder stark betont, daß man nur in Christo und nicht in sich von der Sünde gereinigt sei, und hat sich ausdrücklich gegen den ihm unterschobenen Ausdruck „Sündlosigkeit“ verwahrt und zwar aus dem Grunde, weil er gerade den Gedanken ablehnen wollte, als könne jemand losgelöst von Christo, von der Sünde frei sein, und als sei man nicht mehr fähig, in eine Sünde hineinzugeraten.
Man hat sich in der Erklärung darauf berufen, daß man mit Pastor Paul erfolglos verhandelt habe. Jedoch hat sich derselbe gerade bei diesen Verhandlungen bemüht, deutlich hervorzuheben, daß auch ein in Christo Geheiligter immer wieder von der Sünde hingerissen werden könne, wenn er nicht in Christo bleibt. Wir haben bis ans Ende nur Sicherheit unter der beständigen Deckung des Blutes. Die Brüder haben sich in ihrer Darstellung tatsächlich eines Irrtums schuldig gemacht, für dessen Korrektur wir ihnen herzlich dankbar sein würden. Denn Pastor Paul hat nichts anderes gelehrt, als was auch die Erklärung sagt, daß „der Gläubige in Christo ein fleckenlos gereinigtes Herz habe“.
Ebenso irrtümlich ist auch die dem Pastor Paul unterschobene Ansicht über das eheliche Leben, wie sich aus den betreffenden, in der Heiligung abgedruckten Ausführungen desselben sofort nachweisen läßt. Er hat nur darauf hingewiesen, daß man auch im Eheleben nicht dem Fleische leben, sondern unter der Leitung des Heiligen Geistes stehen müsse. Auch ist es uns nicht bekannt, daß irgendwo in unseren Kreisen die angeführte falsche Anschauung vorgetragen würde, könnten es auch nicht billigen, wenn es irgendwo geschähe.
3.
Wir müssen um der Wahrheit willen noch hervorheben, daß viele Dinge, welche man der Pfingstbewegung zur Last legt, sich bei vorurteilsfreier, genauer Prüfung keineswegs als „zuverlässiges Material“ erweisen, sondern auf falschen Gerüchten oder Mißverständnissen oder einseitigen, oft auch falschen Darstellungen beruhen. Insbesondere sind grobe Irrtümer dadurch entstanden, daß man die Geister der mit Gaben ausgerüsteten Geschwister auf eine ganz falsche Weise zu prüfen suchte. Man hat in ihnen, wie bei spiritistischen Medien, einen „Geist“ vermutet und angeredet, während es sich hier doch um eine durch den Heiligen Geist in den Tiefen ihres Geisteslebens geweckte Geistesgabe handelt. So ist es nur zu erklärlich, daß die geprüften Geschwister aus der Einfalt des Glaubens fielen und verwirrt wurden. Die durch solch unbiblisches Vorgehen angerichtete Verwirrung darf nicht der Pfingstbewegung, sondern der menschlichen Unwissenheit zugeschrieben werden.
Wir legen hiermit feierlich und öffentlich das Bekenntnis ab, daß der Geist, der uns beim Zungenreden, Weissagen und den anderen Geistesgaben beseelt, sich nach 1. Joh. 4,2; und 1. Kor. 12,3 dazu bekennt, daß Jesus Christus ins Fleisch gekommen ist, und daß Er der Herr ist, dem wir mit ganzem Herzen dienen und zu dessen Ehre allein wir unsere von ihm geschenkten Gaben anwenden. Dieses Bewußtsein ist es, das uns in der ernsten Lage, in die uns die Erklärung unserer Brüder gebracht hat, freudige Zuversicht und die Kraft verleiht, Ihm, unserem verherrlichten Haupt, jedes Opfer zu bringen auf dem Weg, auf dem wir uns von Ihm geführt wissen.
Aus: Giese, Ernst: Und flicken die Netze
Dokumente zur Erweckungsgeschichte des 20. Jahrhunderts
2 Aufl. Metzingen: Ernst Franz, 1987. S. 129-133